Man nehme geschicktes Storytelling, teures Marketing und würze das Ganze mit politischen Ambitionen und etwas naiven Glauben – und schon wird aus einem römischen Friedhof in Santiago de Compostela das wichtigste Pilgerziel der mittelalterlichen Welt. Im 9. Jahrhundert wurden in einem antiken Gräberfeld die angeblichen Gebeine des Jesusjünger Jakobus des Älteren «gefunden». Historisch ist es fragwürdig, ob die verehrten Reliquien wirklich vom Zeitzeugen Jesus stammen, der im fernen Jerusalem als Märtyrer hingerichtet wurde (die «Entdeckung» des Grabes hatte wohl auch handfeste politische Gründe). Die lokale Wallfahrtsstelle wurde ab dem 11. Jahrhundert dennoch zum Pilgerziel von Menschen aus ganz Europa – und mittlerweile zum Reiseziel von Sinnsuchern aus allen Ecken der Welt.

Kathedrale und Pilger-Spotting

Zentrum und Herz der Stadt ist die Kathedrale, die über dem vermeintlichen Grabmal des Jakobus errichtet wurde. Trotz der barocken Aussenfassade stammt der riesige Bau aus dem 11. und 12. Jahrhundert und ist ein Meisterwerk der Romanik – den hässlichen barocken Altar muss man allerdings geflissentlich übersehen. Insbesondere das originale Eingangsportal, das sogenannte «Pórtico de la Gloria», das durch die Barockfassade vor der Zerstörung durch Wind und Wetter geschützt wurde, gilt als ein Höhepunkt der romanischen Plastik. Ein Besuch des Portico, das in den letzten Jahren renoviert wurde und nun schöner strahlt als je zuvor, ist ein absolutes Muss.

Die Altstadt gehört zu den schönsten am Jakobsweg. © Shutterstock / Lux Blue

Das Wohnzimmer Santiagos

Vor der Kathedrale befindet sich die Plaza do Obradoiro – das Wohnzimmer Santiagos. Täglich kommen hier hunderte Pilger an, die mehrere Wochen oder Monate unterwegs waren. Die Emotionen und Freudentränen mitzuerleben, gehört zu den intensiven Eindrücken bei einem Besuch Santiagos. An dem Platz befindet sich zudem einer der berühmtesten Bauten am Jakobsweg: das Hostal de Los Reyes Católicos aus dem 16. Jahrhundert. Die katholischen Könige Isabell und Ferdinand stifteten im Jahr 1499 eine neue Herberge und ein Pilgerhospital, nachdem sie selbst nach Santiago gepilgert waren. Seit jenen fernen Tag ist der Bau durchgehend in Benutzung und noch im Grossteil im Originalzustand erhalten. Heute befindet sich in den Räumen ein Parador-Luxushotel. Gäste sollten unbedingt im hoteleigenen Café inmitten der historischen Mauern einen Kaffee trinken.

Das Hostal de Los Reyes Católicos aus dem 16. Jahrhundert. © Shutterstock / Tenreiro

Schönste Stadt Nordspaniens

Überhaupt besitzt Santiago de Compostela, das im Jahr 1985 zum UNESCO-Welterbe erhoben wurde, die schönste Altstadt am Jakobsweg – vielleicht sogar ganz Nord-Spaniens. Die spanische Bauwut, welche in den 1960er- und 70er-Jahren viele Städte verschandelt hatte, machte vor dem historischen Zentrum zum Glück Halt. Die Altstadt ist nicht gross, sodass man sich genüsslich Zeit zum Entdecken nehmen kann. Am besten man lässt sich ohne Stadtplan treiben: Die Türme der Kathedrale dienen als Anhaltspunkt. Vorbei geht es an Steinhäusern mit den typischen verglasten Balkonen, die Schutz vor dem feuchten Wetter Galiciens bieten, zu kleinen Plätzen und durch Laubengänge, die an die Schweizer Bundesstadt Bern erinnern. Nebst den zu erwartenden Souvenirläden finden sich hier noch lokale Geschäfte, Delikatessläden und Kleidershops, und gefühlt in jedem zweiten Haus eine Bar oder ein Restaurant. Wer eine Pause vom Sightseeing braucht, findet also genügend Möglichkeiten für einen Kaffee.

Schlemmen auf Galicisch

Santiago de Compostela und die Region Galicien sind nicht nur ein Reiseziel für Kultur- und Geschichtsinteressierte, sondern insbesondere auch für «Foodies» und Schleckermäuler. Insbesondere die Meeresfrüchte, die Austern, verschiedenste Muscheln, Krebse und Krabben, die vor den Küsten gefangen und gezüchtet werden, zählen zu den besten Europas – und zu den leckersten.

Einen Bissen wert: Pulpo al la feira. © Shutterstock / VicVa

Am Rande der Altstadt liegt der Gemüse-, Fleisch- und Fischmarkt, der Mercado de Abastos, in dem nicht nur die lokale Bevölkerung einkauft, sondern auch die Chefs der Restaurants täglich ihre Zutaten aussuchen. Einer der Hallen wurde zu einer «Gourmet-Strasse» mit mehreren Restaurants umgewandelt. Hier findet man das gesamte Spektrum der galicischen Küche, von der Gemüsesuppe Caldo Gallego bis zu Pulpo a la feira, Krake auf galicische Art – der «Signature-Dish» der Region. Wer nicht vegetarisch oder vegan lebt, sollte das zugegebenermassen etwas unästhetische Gericht unbedingt mal probieren. Tipp: Santiagos Genuss-Strasse ist die Rúa do Franco. Hier reiht sich ein Restaurant ans nächste. Interessant: Schon im Mittelalter war diese Strasse das Versorgungszentrum für die Pilger, manche Gasthäuser blicken also auf eine lange Tradition zurück.

Im Süden Galiciens

Galicien hat sich mittlerweile zum weltweit grössten Produzenten von Miesmuscheln gemausert. Zudem gedeihen in den nährstoffreichen Meeresarmen, wo sich das Salzwasser mit dem Süsswasser vereint, Schwertmuscheln, Krebse verschiedener Art, Seespinnen, Herz-, Venusund Entenmuscheln, Hummer und kleine schmackhafte Garnelen. Nebst der industriellen Muschelzucht ist ein Grossteil der Fischerei auch heute noch Handarbeit – beispielsweise werden die Schwertmuscheln durch Taucher «geerntet».

Das Fischerdorf Combarro hat seinen Charme bewahrt. © Shutterstock / Sopotnicki

Wie die Fischer von einst lebten, sieht man im Fischerdorf Combarro südlich von Santiago, das noch seinen ursprünglichen Charme bewahrt hat. Einen Steinwurf entfernt befindet sich Pontevedra – mit Santiago die schönste Stadt der autonomen Region Galicien. Weniger touristisch als die Jakobusstadt, kann man hier ins lokale Leben eintauchen, sich durch die Gassen und über die belebten Plätze treiben lassen. Und weil man in Galicien (wie in Spanien allgemein) das Ausgehen liebt, finden sich auch in Pontevedra Restaurants und Cafés im Überfluss. Eine der schönsten Plätze für ein nachmittägliches «Cafe con leche» oder ein «Estella Galicia»-Bier ist der Platz Praza da Verdura, wo es mehrere gute Bars gibt. Sightseeing-Highlights der Stadt sind die barocke Pilgerkirche Igrexa da Virxe Peregrina (Pontevedra liegt am portugiesischen Jakobsweg), das Provinzmuseum Museo de Pontevedra mit guter archäologischer Sammlung und die Markthalle Mercado de Abastos.

Stockfisch auf dem Mercado de Abastos. © Shutterstock / RudiErnst

Kamelien, Wein und Genuss

Dank des feucht-milden Klimas bietet Galicien die perfekten Voraussetzungen für herrschaftliche Gartenanlagen. Insbesondere Kamelien lieben es hier am westlichen Zipfel Europas – ältere Exemplare werden gar baumgross. Der galicische Adel entdeckte vor etwa 200 Jahren die Kamelienzucht, und so gedeihen in Galicien heute etwa 8000 verschiedene Arten der bezaubernden Blumen – 800 davon alleine in dem weitläufigen Garten des Herrenhauses Pazo de Rubianes südlich von Santiago, das wie ein französisches Landschlösschen daherkommt, inklusive Mini Barock-Garten a la Versailles. Galicien ist zudem auch eine hervorragende Weinregion – wenn auch ausserhalb Spaniens kaum bekannt. Auf 25 Hektaren des insgesamt 70 Hektaren grossen Landsitzes wird die lokale Weissweinsorte Alberino angebaut, der mit seiner Spritzigkeit und Säure perfekt zu Meeresfrüchten passt. Bei einer geführten Tour besucht man den Garten, die Weinparzellen und das Herrenhaus. Abschliessend steht eine Degustation edler Tropfen auf dem Programm.

Kamelien sind in Galicien allgegenwärtig. © Shutterstock / Pilar Picas

Schnupperpilgern ans Ende der Welt

Bei einem Besuch in Galicien sollte eines nicht fehlen: etwas Schnupperpilgern. Allerdings sind die Pilgerwege nach Santiago auf der letzten Etappe allesamt wenig spektakulär – anders als der Einmarsch nach Finisterre, dem Ende der Welt. Das Kap Finisterre galt lange als der westlichste Punkt des europäischen Festlands. Manche Jakobspilger betrachten diesen Spot als wahres Ende des Jakobswegs und marschieren in etwa drei Tagen von Santiago gegen Westen.

Der Leuchtturm am Kap Finisterre ist ebenfalls ein Pilgerziel. © Shutterstock / arCam78

Sehr schön sind die letzten Kilometer an dem Dörfchen Sardiñeiro de Abaixo (sieben Kilometer, zwei Stunden) vorbei. Mit Blick auf den Atlantik bekommt man hier einen guten Eindruck vom Wandern durch Galicien. Und vielleicht kommt man gar mit einem weitgewanderten Pilger ins Gespräch. Highlight des Weges ist der etwa zwei Kilometer lange Strand von Finisterre, an dem der Wanderweg entlangführt. Finisterre ist ein lebendiges Fischerdörfchen mit einer kleinen Hafenpromenade samt guten Restaurants. Vom Dörfchen ist es noch eine etwa zwei Kilometer lange Steigung zum Leuchtturm am Kap Finisterre. Der Legende nach soll hier ein Sonnentempel der Kelten gestanden haben. Das ist historisch unwahrscheinlich, dennoch strömen immer mehr Pilger hierher, um mit Blick aufs Meer ihren Weg zu beenden. Insbesondere am Nachmittag und Abend verströmen das Kap, der weite Blick und der salzige Duft des Meeres eine mystische Stimmung.

www.spain.info
www.caminodesantiago.ch